Zunehmend angegriffen: Ariane Kaufmann, Carmen Vonmont und Maximilian Grob (von links nach rechts) vom USZ. Aline Leutwiler
Ein älterer Mann bringt seine Frau zu einem Notfall. Während des Abendessens spürte sie plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Am Krankenhauseingang wird die Frau sofort von Krankenschwestern begrüßt. Aufgrund der Coronavirus-Maßnahmen muss ihr Mann draußen warten. Nach ein paar Minuten wird er unruhig und stellt sich Szenarien in seinem Kopf vor. Immer wieder klopft er an die Notfenster, will sich verzweifelt Zugang verschaffen. Als eine Krankenschwester versucht, ihn zu beruhigen, flippt er aus. Carmen Vonmont (43), Fachärztin für Notfallmedizin am Universitätsspital Zürich (USZ), erzählt bei ihrem Blick-Besuch von diesem Fall. „Schon vor Corona kam es regelmäßig zu Aggressionen gegenüber Beschäftigten im Gesundheitswesen“, sagt Vonmont. Zu Beginn der Krise verbesserte sich die Situation kurzzeitig – wohl auch, weil aufgrund der strengen Corona-Regelung fast niemand mehr Zugang zum Krankenhaus hatte. „Aber seit die Maßnahmen gelockert wurden, sehen wir einen kontinuierlichen Anstieg der Fälle.“

Schlüsselfaktor beim Ausstieg aus dem Beruf

Interne Aggressionsmeldungen nahmen 2021 im Vergleich zu 2020 um 120 Prozent zu. «Im Durchschnitt müssen wir drei- bis viermal am Tag eingreifen», bestätigt Maximilian Grob (26), stellvertretender Leiter des Sicherheitsdienstes beim USZ. In 60 Prozent aller Fälle sind Männer die Aggressoren. Meistens sind es „nur“ Beleidigungen oder Beleidigungen. Aber auch das Gesundheitspersonal muss mit Schlägen umgehen: Ärzte und Pflegekräfte werden gekratzt, gestoßen, bespuckt, geschlagen oder gepackt. In einigen Fällen wurden Mitarbeiter so stark verletzt, dass sie medizinische Hilfe benötigten. Patienten oder Angehörige, die gewalttätig werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Auch Ariane Kaufmann (42), leitende Notärztin am USZ, wurde von Patienten gebissen. „Zusätzlich zu der ohnehin schon hohen Belastung müssen wir uns in der Notaufnahme einiges anhören. Wir heben uns ab und nehmen nicht alles zu ernst, sonst wäre unser Job noch schwerer.” Aggression gegenüber Mitarbeitern ist ein wesentlicher Faktor beim Verlassen des Berufs. „Das Problem ist verheerend für unseren Berufsstand. Der Personalmangel verschlimmert sich rapide, Angriffe am Arbeitsplatz sind daher nicht günstig», warnt Pierre-André Wagner (61) vom Schweizerischen Berufsverband der Pflegerinnen und Pfleger (SBK). “Wir sind sehr besorgt.”

Alkohol und Drogen spielen eine Rolle

Das USZ ist mit dem Problem nicht allein. Andere Schweizer Notrufzentralen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. „Wir haben jedes Jahr eine zweistellige Anzahl an schwerwiegenden Ereignissen. Manchmal erleben wir zwei- bis dreimal täglich Mobbing oder Drohungen», sagt Robert Sieber (64), Chefarzt der Notaufnahme des Kantonsspitals St. Gallen. Das Problem ist besonders besorgniserregend an drogen- und alkoholbezogenen Abenden und Wochenenden. Im Berner Inselspital wurde im vergangenen Jahr der Sicherheitsdienst 1600 Mal gerufen, um aggressive Patienten unter Kontrolle zu halten. In diesem Jahr ist die Tendenz steigend. Aber nicht nur das medizinische Personal im Krankenhaus ist betroffen. Betroffen sind auch Mitarbeitende in Irrenanstalten, Heimen, Kliniken oder von Rettungsdiensten und Spitex. Schweizweit liegen keine Zahlen vor, wie viele Angriffe auf Gesundheitspersonal es gibt. «Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde Aggression ein Thema auf Akutstationen, etwas früher in der Psychiatrie», sagt Dirk Richter (59), Professor an der Berner Fachhochschule. Untersucht Aggression. Krankenhäuser haben lange Zeit nicht die notwendigen Präventionsmaßnahmen ergriffen, sodass sich das Problem nicht besserte, wenn nicht verschlimmerte. „Nur weil die Daten nicht perfekt sind, ist es schwer zu sagen, ob oder wie stark die Aggression zugenommen hat“, sagt Richter. Sowohl der Gewaltbegriff als auch die persönlichen Befindlichkeiten haben sich in den letzten Jahren gewandelt und sind stärker thematisiert worden. Es ist also möglich, dass nicht die Zahl der Fälle zugenommen hat, sondern die Zahl der Meldungen.

Corona-Skeptiker flippen aus

In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat Corona jedenfalls maßgeblich zur Zunahme der Aggression beigetragen, heißt es in der Branche. Viele Behandlungen wurden während der Pandemie verschoben. Jetzt gibt es Stau. Das USZ Notfall ist auf 20’000 Fälle pro Jahr ausgelegt. Die Mitarbeiter bewältigen derzeit mehr als das Doppelte. Nicht jeder hat Verständnis für die Wartezeiten, die in Notsituationen entstehen, und insbesondere Pflegekräfte spüren den Ärger und die Frustration. „Wir geben jeden Tag unser Bestes. Ich wünschte, die Bevölkerung würde verstehen, dass wir zwischen akuten und weniger akuten Fällen unterscheiden müssen“, sagt Notarztschwester Vonmont. Neben der Ungeduld durften Angehörige ihre Lieben in einem Coronavirus-Notfall nicht begleiten. „In diesen Fällen können Angst und Unruhe zu aggressivem Verhalten führen“, sagt Vonmont. Und die Kluft zwischen Befürwortern und Skeptikern der Coronavirus-Maßnahmen sorgt auch in Notstationen für Sprengstoff. Ärztekammer FMH: «Positionen für oder gegen Schutzmassnahmen waren und sind teilweise mit starken Emotionen verbunden und teilweise mit grosser Vehemenz vertreten.» Mehr zum Gesundheitswesen